„Vor Wut strotzender Charakter“
Vortrag über die "Stadtverwaltung Schramberg in der NS-Zeit"
So viele Menschen habe sie noch nie im großen Sitzungssaal des Rathauses erlebt, wunderte sich am Montagabend Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr. Und tatsächlich, alle Plätze am Ratstisch und die Stühle für die Zuschauer waren besetzt. Rathausmitarbeiter schleppten zusätzliche Sitzgelegenheiten in den Saal, und trotzdem mussten einige Gäste stehen. Angezogen hatte sie das Thema eines Vortrags: „Die Rolle der Stadtverwaltung Schramberg in der NS-Zeit“
Schramberg. Unter den Gästen waren die beiden Vorgänger von Eisenlohr, Herbert O. Zinell und Thomas Herzog, etliche Altstadträtinnen und Räte waren gekommen, darunter auch Ehrenbürger Hans-Jochem Steim. Aus dem aktuellen Gemeinderat waren wenige Rätinnen und Räte anwesend, weil Montagabend die Fraktionen tagen, um die Gemeinderatssitzung vorzubereiten.
In ihrer Begrüßung stellte Eisenlohr die beiden Referenten Robin Wußler und David Kuhner vor. Beide hatten nach dem Abitur ein freiwilliges kulturelles Jahr im Stadtarchiv absolviert und studieren derzeit an der Uni Tübingen Geschichte. Beide haben schon zu Schramberger Geschichtsthemen Arbeiten veröffentlicht. Jetzt hätten sie sich die Zeit des „Dritten Reichs“ im Schramberger Rathaus vorgenommen. „Wie erfolgte die Machtübernahme der Nazis? War die Stadtverwaltung aktiver Täter? Wer waren wichtige und treibende Akteure?“
Wußler erinnerte daran, dass die NS-Zeit auch in Schramberg lange „ein großes Tabu-Thema“ war. Erst die 68er-Bewegung habe das geändert. Vor allem lokale Themen seien oft noch nicht ausreichend aufgeklärt. Bis heute aber würden solche Forschungen gelegentlich unterbunden.
Relikte der NS-Zeit
Schon vor vier Jahren hätten sie sich mit der NS-Zeit beschäftigt und nun die Rolle der Stadtverwaltung in den Blick genommen. Relikte aus dieser Zeit seien schließlich bis heute durch die Wandgemälde im Foyer und im Treppenhaus von Heinz (“Jockel”) Montenbruck (1910-1969) im Rathaus zu entdecken.
Diese Bilder stünden beispielhaft für die “Blut- und Bodenideologie” der Nationalsozialisten, so Wußler. Erst jüngst sei ein aus der NS-Zeit stammender schwerer Lüster im „kleinen Sitzungssaal“ abmontiert worden.
Sitzungsprotokolle gewälzt
Die beiden jungen Wissenschaftler haben im Frühjahr 2024 einen Monat lang die Sitzungsprotokolle des Gemeinderats zwischen 1932 und 1948 im Stadtarchiv ausgewertet. Sie wollten herausfinden, ob die Stadtverwaltung in der NS-Zeit „lediglich ausführendes Organ, oder auch aktiv Täter“ war.
Wie hat die Verwaltung den öffentlichen Raum umgestaltet, wie auf die herrschende Wohnungsnot reagiert? Aber auch die Rolle der Stadtverwaltung bei Zwangsarbeit, Euthanasie und Holocaust sind Forschungsgegenstand. Schließlich interessieren sich die beiden dafür, wie es mit der städtischen Beamtenschaft nach Ende der NS-Diktatur weiter ging.
Bei ihrer Analyse der Gemeinderatsprotokolle stellten die beiden fest, dass der Gemeinderat besonders viel über Wohnungsbau und soziale Fragen beriet.
Vom Schramberger Krankenhaus über die Nervenheilanstalt ins Gas
Sie erstellten eine Liste von Menschen, die aus dem städtischen Krankenhaus wegen psychischer Probleme in Psychiatrien und Nervenheilanstalten geschickt wurden. Von dort seien manche weiter in die Tötungsanstalt Grafeneck weitergeschickt und dort umgebracht worden.
Die Stadtverwaltung habe die Befehle von oben rigoros umgesetzt „vor allem in der Spätphase unter Bürgermeister Dr. Fritz Arnold.“
Über diesen und seinen ebenfalls der NSDAP angehörenden Vorgänger Dr. Fritz Klingler berichteten Wußler und Kuhner ausführlich.
Hakenkreuzfahnen am Rathaus und der Falkenstein
Nach der Machtübernahme durch die NSDAP im Frühjahr 1933 wehten am Rathaus, an der Ruine Falkenstein und anderen städtischen und privaten Häusern schon bald Hakenkreuzfahnen.
Die Hauptstraße benannten die neuen Herren in Adolf-Hitler-Straße um. Die Villa Junghans kaufte die Stadt, und die NSDAP richtete dort ihre Kreisleitung ein. Im Erdgeschoss des „Adolf-Hitler-Hauses“ entstand unter NS-Aufsicht ein öffentliches Café.
Täter im weißen Kittel
Zwei Ärzte, die während der NS-Zeit am Schrambergern Krankenhaus leitende Positionen hatten, hätten am Euthanasieprogramm mitgewirkt. Dr. Christoph Blum hatte die Aufgabe, „im Rahmen des sogenannten Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 Männer im städtischen Krankenhaus unfruchtbar zu machen. Einen Sterilisationsapparat hatte man bereits 1933 angeschafft. „Zudem wiesen die Ärzte des städtischen Krankenhauses, vor allem der Leiter Dr. Wolfram Vayhinger (1879-1949), zahlreiche Patienten in Nervenheilanstalten ein, die teilweise den Euthanasiemorden zum Opfer fielen.“
Blum hatte in einem öffentlichen Vortrag in Schramberg gefordert: „Ein Volk, das nicht vom Schauplatz der Geschichte abtreten will, muss die Auslese des erblichen Nachwuchses selbst vornehmen.“
Blum wurde im Krieg eingezogen und starb 1942 in einem Lazarett. Vayhinger arbeitete nach dem Krieg, trotz seiner politischen Belastung bei der städtischen Tuberkulose-Fürsorgestelle. Er starb 1949.
Eugen Ritter amtsenthoben
Der langjährige Schramberger Oberbürgermeister Eugen Ritter war parteilos und daher den neuen NS-Herren „ein Dorn im Auge“, wie Wußler es formulierte. Die Partei leitete seine Amtsenthebung ein, indem sie gegen ihn eine Hetzkampagne in ihren „Schramberger Naziblättern“ (die hießen wirklich so) entfachten.
Im Juni 1933 wurde Ritter amtsenthoben und zog nach Rottweil, seine Geburtsstadt.
Die NS-Nachfolger und ihre Schicksale
Sein Nachfolger Fritz Klingler wurde offiziell am 20. Januar 1934 im Ratssaal in sein Amt eingeführt. Er sei in der Bevölkerung recht beliebt gewesen, so David Kuhner, auch weil er kein fanatischer Nationalsozialist war.
Auf die Rathausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter habe er nur wenig bis gar keinen Druck ausgeübt, NSDAP-Mitglied zu werden. Allerdings hatte die NSDAP im April 1933 einen Aufnahmestopp verfügt. Klingler starb ein einem Autounfall 1936.
Sein Nachfolger, der Lauterbacher Dr. Fritz Arnold, habe einen „vor Wut strotzenden Charakter“, gehabt, was insbesondere gegen Ende der NS-Diktatur zutage getreten sei. Sein jüngerer Bruder Otto war NSDAP-Kreisleiter in Rottweil.
Bürgermeister Arnold habe bei Kriegsende unbedingt an den Befehlen von oben festhalten wollen, „auch wenn sie die Zerstörung der Heimat bedeutet hätten“. NS-Gesetze habe er rigoros umgesetzt. Im Rathaus habe er die Beschäftigten massiv gedrängt in die Partei ein– und aus der Kirche auszutreten.
Nach dem Krieg habe Arnold versucht, von seinen ehemaligen Untergebenen positive Berichte („Persilscheine“) über sein Verhalten zu bekommen, um bei der Entnazifizierung besser dazu stehen. „Die haben ihn aber abblitzen lassen.“
Arnold verbrachte dann drei Jahre in französischen Straflagern, erst in Frankreich, dann auf der Alb. Politische Ämter durfte er nicht ausüben, arbeitete aber wohl in seinem Beruf als Rechtsanwalt. Arnold starb 1972 in seinem Heimatdorf.
Die Nazis säubern den Rat
Schon kurz nach der Machtübernahme verloren die Gemeinderäte von SPD und KPD ihre Mandate. Im April ersetzte die NSDAP die verbliebenen Mitglieder vom Zentrum, der liberalen DDP, der SPD und KPD durch fünf Zentrumsleute und acht NSDAP-Mitglieder. Ein Zentrumsmitglied wechselte zur NSDAP. Er war Musiker in der Stadtmusik. Diese hatte die NSDAP zu einer SA-Kapelle umfirmiert, und die Mitglieder mussten Parteigenossen sein.
Anfang 1934 säuberte die NDSAP den Rat endgültig. Der letzte Zentrumsmann Karl Schinle kam in Schutzhaft und später mehrmals in ein Arbeitslager. Der frühere KPD-Stadtrat Andreas Wössner wurde in Stuttgart nach einer Großdemonstration gegen die NSDAP verhaftet, ins Zuchthaus gesteckt und 1942 enthauptet.
Nach dem 20. Juli 1944 gerieten zwölf ehemalige SPD- und Zentrums- Gemeinderäte in Schutzhaft, weil die Gestapo sie verdächtigte, am Hitler-Attentat beteiligt gewesen zu sein.
NSDAP-Mitgliedschaft blieb weitgehend folgenlos
Die beiden jungen Historiker haben sich intensiv mit den Strukturen im Rathaus beschäftigt. Sie haben festgestellt, dass einige der Führungspersönlichkeiten bald nach dem Amtsantritt altersbedingt ausschieden. Andere traten der NSDAP bei, nachdem Arnold Druck und Schikanen angedroht oder ausgeübt hatte.
Nur wenige verloren nach dem Krieg ihre Arbeit, auch wenn sie überzeugte Nazis gewesen waren: „Von den eigentlichen Verwaltungsangestellten sind neben dem nationalsozialistischen Bürgermeister Fritz Arnold nur Friedrich Herter, Wilhelm Pfundstein und Paul Ruopp sowie einige Kanzleigehilfinnen entlassen worden. Von diesen durften zumindest Friedrich Herter und Wilhelm Pfundstein nach der erfolgten Entnazifizierung wieder bei der Stadtverwaltung arbeiten.“
Von der Stadtmusik und „Märzgefallenen“
In der anschließenden Fragerunde wollte Mark Finnern wissen, wie das mit der Umwandlung der Stadtmusik in eine SA-Blaskapelle gelaufen ist. Die frühere Vorsitzende der Stadtmusik, Tanja Witkowski, hatte sich mit der Geschichte der Stadtmusik beschäftigt und wusste, dass alle Blasmusikorchester für die NSDAP instrumentalisiert und in SA-Kapellen umgewandelt worden seien.
Bei ihren Recherchen stellte sie fest, dass die NS-Zeit in den Vereinsanalen wohl gesäubert worden war: „Seiten waren herausgerissen.“ Einmal habe die Schramberger Kapelle bei einem Reichsparteitag gespielt, hat die Ehrenvorsitzende herausgefunden.
Ein anderer Zuhörer fragte sich, ob es zwischen der Kirche und der Stadtmusik/SA-Kapelle Konflikte gegeben habe. Die Musiker hätten ja bei den Fronleichnamsprozessionen traditionellerweise musiziert. Eine SA-Kapelle beim Fronleichnams-Umzug sei aber schwer vorstellbar.
Eine andere Frage bezog sich auf den NSDAP-Aufnahmestopp. Dazu führte Kuhner aus, dass nach der Machtübernahme „eine enorme Masse Mitglied werden wollte“. Die Parteiorganisation habe das nicht bewältigt und deshalb den Aufnahmestopp verfügt, der später wieder gelockert wurde.
Unter den alten „Parteigenossen“ galten die Aufnahmewilligen als „Märzgefallene“, weil sie erst nach der endgültigen Machtübernahme den Aufnahmeantrag gestellt hatten.
Über das Verhältnis der Verwaltung zur Bevölkerung lasse sich aus den Ratsprotokollen nicht sehr viel ablesen, antwortete Wußler auf eine entsprechende Frage. In sozialen Dingen sei die Verwaltung wohl „recht tatkräftig“ gewesen.
Susanne Andreae war erstaunt zu erfahren, dass Dr. Vayhinger nicht nur Hausarzt, sondern auch im Krankenhaus beschäftigt war: „Dass mein Urgroßvater da tätig war, war mir nicht bekannt.“
Stolpersteine in diesem Jahr
Schließlich wies Eisenlohr auf die Stolpersteinaktion hin. Sie erkundigte sich bei Stadtarchivar Carsten Kohlmann, wann mit dem Verlegen der ersten Stolpersteine auch für die „Euthanasieopfer“ zu rechnen sei. Antwort: „Im Lauf dieses Jahres.“
Eisenlohr bedankte sich bei den beiden Referenten und das große Interesse. Das Publikum dankte mit langanhaltendem Beifall.